"Alles zu bezweifeln oder alles zu glauben, das sind zwei gleichermaßen bequeme Lösungen, denn beide entheben sie uns des Nachdenkens."
(Henri Poincaré, La science et l´hypothèse)
Ja, es sind wirre Zeiten. Zu Beginn des Jahres hatten wir noch alle unsere Neujahrsvorsätze, von denen sicher der ein oder andere in diesem Jahr nicht nur der eigenen Vorsatz-Amnesie zum Oper gefallen ist, sondern dem kleinen Etwas, das uns alle nun omnipräsent bewegt. Ob Nachrichten, Social Media Beiträge, das Gespräch beim Bäcker oder ein nun endlich mal wieder stattfindendes Freundetreffen – das Virus ist Thema. Und dabei geht es zuweilen richtig rund. Ob Zweifel oder Glaube, die jeweiligen Überzeugungen, ergo die Wahrheit wird standhaft verteidigt, wobei die Meinung oft die Ahnung missen lässt. Es wird aktionistisch ins Rennen geworfen, was Hoffnung schürt auf´s Gewohnte, auf das, was mal war. Es möge bitte schnell wiederkommen. Denn es war – von heute aus betrachtet – alles gut. Alles gut?
Ein Blick zurück
Heute ist der 27. August 2020. Nun mal ein kleines Experiment. Wir gehen ein Jahr zurück mit der Google-Eingabe „Themen 27. August 2019“. Sie bringt folgende Treffer (hier eine Auswahl, Quelle: Tagesschau): „Brexit, Scheuer plant Punkte für Falschparker, Brasilien: Roden, um am Amazonas zu überleben, 100 Migranten aus dem Mittelmeer gerettet, Freibäder: Angstmache am Beckenrand, wie man im Alltag das Klima schützen kann, Mobbing: der alltägliche Horror, Trump will Nationalpark in Alaska zur Abholzung freigeben, Hochwasser in Nordosteuropa nehmen zu, Johnson außer Rand und Band…“ Und bei den Themen am 28. August 2019 geht es gleich weiter: „Hurrikan Dorian: Florida ruft den Notstand aus, Waldbrände in Bolivien, illegale Müllexporte…“ Die Meldung nicht zu vergessen, dass Hallig Hooge dem Klimawandel trotzt. Immerhin. Etwas Positives!
Es gab also auch schon im letzten Jahr und sicher auch in den Jahren davor genug zu tun, und wir alle sind wohl ständig in unseren unterschiedlichen Lebenssituationen gefragt, Dinge für uns zu bewerten und zu überlegen, was denn die einzelnen Meldungen für uns bedeuten. Inwieweit betrifft es mich, wenn im Amazonasgebiet der Regenwald abgebrannt wird? Was bedeutet es, wenn die Artenvielfalt stirbt? Und überhaupt einmal mitten in der Grillsaison gefragt: Wie war das noch mit den Fleischskandalen in den letzten Jahren? Wird schon nicht so schlimm sein oder schmeckt doch leider nicht mehr wirklich, wenn man mal drüber nachdenkt? Oder wenn man einfach mal innehält und fragt. Das hat meine Generation schon in der Sesamstrasse gelernt, dass wer nicht fragt, dumm bleibt: “Manchmal muss man fragen, um sich zu verstehen”. Vielleicht erinnert sich der oder die ein/e oder andere. War schließlich der Titelsong. Und das ist ja in der Tat so. Fragen macht nicht nur schlau sondern Sinn, zudem nicht in der Erwartung einer direkt passenden und zu 100% richtigen Antwort sondern schlicht, um eine Diskussion um mögliche Änderungen anzuregen. Genau so kommen wir doch weiter. Allein eine Ahnung, die ich mit jemandem offen diskutiere, der seine Ahnung beiträgt, bringt uns möglichen Lösungen näher, die dann vielleicht ausprobiert oder erforscht werden können.
Irren ist wichtig
Genau so funktioniert ja auch Wissenschaft. Der Anspruch erfolgreicher Wissenschaft – und auch der Anspruch der Wissenschaftler selbst – ist ja nicht, die Weisheit und damit ultimative Wahrheit erfinden zu wollen, sondern Ideen und Annahmen zu evaluieren. Und dabei gibt es natürlich Fehlversuche, fehlerhafte Ergebnisse und erneute Versuche. So stelle ich mir das zumindest vor, denn wie der Name schon sagt, schafft der Wissenschaftler ja Wissen, er fördert es zutage sozusagen, damit es irgend jemandem – und bestenfalls der Welt an sich – hilft. Dabei ist Irren doch wirklich wichtig, denn ohne Fehlversuch gibt es folgerichtig keine Idee für neue Ansätze und Versuche, oder?
Und jetzt mal kurz Introspektive – jede/r für sich: Wie oft erleben wir Situationen, in denen wir etwas hinterfragen müssen? Sind wir nicht alle ständig auf Lernkurs und erfahren Neues in vielen Bereichen des Lebens?`Und sind wir dann nicht am Zug, uns sorgsam eine Meinung zu bilden? Sehr bedacht und gegebenenfalls im Austausch mit anderen oder mit Hilfe zusätzlicher Informationen, die uns dabei noch fehlen?
Irren macht schlauer
Ich zum Beispiel, ich lerne bei jedem Arztbesuch, wobei ich auf meine wichtige Frage nach der Wirksamkeit der Therapie oft folgende Antwort bekomme: „Es kann helfen oder auch nicht.“ „Es kann den Krankheitsfortschritt verzögern – oder auch nicht. Das Medikament ist vielversprechend, aber es wird noch geforscht.” Krebs ist bis heute eine Krankheit, die ein sehr störrisches und nur begrenzt zähmbares Eigenleben hat. Die Wissenschaft forscht, und diejenigen, dessen oder deren Zellen auf falschem Kurs schippern, können dann hilflos sagen: „Ist halt so.“ oder einfach einmal selbst forschen, denn so manches ist unklar – auch den Ärzten – und dann findet man andere Meinungen, andere Ideen, ergänzende Therapieoptionen. Meine Ärzte sind offen dafür und freuen sich darüber, über meine eigene „Wissenschaft“ zu diskutieren, zu überlegen, was dran sein könnte und wie es helfen könnte. Sie sitzen mir nicht gegenüber und behaupten sie kennen den Kurs, und ich möge ihn doch bitte einhalten. Und ich sitze nicht da und ignoriere ihre bisher sehr gut wirkenden Therapievorschläge, da ich in YouTube gesehen habe, dass man sich das alles sparen sollte zugunsten derjenigen, die außerhalb jeder Wissenschaft die ultimative Lösung gefunden haben.
Mir hilft der Diskurs auf Augenhöhe, und oft geht es mir besser nach gemeinsam überdachten kleinen Änderungen der Therapie oder auch einem Verhalten, das ich selbst ändere. Wie zum Beispiel das Weglassen von zu viel Zucker und Weißmehl oder Schokolade. Ja, sie schmeckt wunderbar, aber der Moment auf der Zunge ist die folgenschweren Gelenkschmerzen nicht wert. Meine Ärzte ermutigen mich darin, therapiebegleitend selbst herauszufinden, was mir gut tut und was nicht. Dies stärkt ungemein – beide Seiten übrigens, denn Erfahrungen können ja auch weitergegeben werden.
Was wäre ein Arzt wert, der kraft seiner Instanz meine Annahme als sinnlos straft? Und mir das Gefühl gibt, mit meinen kaputten Zellen zudem den Verstand verloren zu haben. All dies sollten wir uns einmal gründlich überlegen im Umgang mit einer Situation, die für uns alle neu ist. Ja, da gibt es etwas, das ist neu, zudem derzeit unberechenbar, unbekannt und aufgrund der vorliegenden vielen traurigen Beispiele für den oder die ein oder andere/n gefährlich. Da ist SARS-Cov-2, das Virus, das unser aller Leben auf neuen Kurs bringt.
Irren macht Sinn
Sollten wir nicht völlig selbstverständlich davon ausgehen, dass Wissenschaftler, Medien, Ärzte, Politiker, letztlich jeder einzelne von uns irren kann, und dass sich damit Wege, mit dem Virus umzugehen als falsch erweisen können? Brauchen wir nicht zunächst viele unterschiedliche Hypothesen, um dem richtigen Weg näher zu kommen?
Vielleicht wäre der bessere Weg, dies zu akzeptieren und dadurch besonnen und ohne Panik zu lernen und uns Schritt für Schritt einem Ziel zu nähern, das da heißt: die Unwägbarkeiten des Lebens zu akzeptieren, indem wir sie annehmen und ihnen dadurch die Bedrohlichkeit nehmen. Dann schaffen wir auch Lösungen, die uns wirklich helfen. Miteinander. In gegenseitiger Akzeptanz. Nur dadurch können wir gemeinsam etwas lernen. Vielleicht sogar nicht nur über das Virus sondern auch ganz viel über uns selbst.